Zwei Kurzgeschichten von Karin Kitsche

 

Die schöne Blonde

Es war wie an jedem Morgen. Christine hatte mir die Thermoskanne mit Tee und die Brotdose in meine abgewetzte Aktentasche gestellt und ich war zur Straßenbahn gelaufen. Die '17' rollte heran und ich schob mich mit den anderen in den Waggon. Während ich meine Tasche gekonnt unterm linken Arm festklemmte, meine Rechte nach einer Halteschlaufe fingerte, schweifte mein Blick apathisch über die Köpfe der Mitreisenden hinweg. Ich war müde. Mühsam unterdrückte ich ein Gähnen — und dann war ich plötzlich hellwach. Da hinten, die Blondine — Wow — die hatte mir direkt in die Augen gesehen. Nein, nicht einfach so wie man eben guckt. Oder wie ich eben meistens gucke. Nein, so richtig in die Augen. Mir schien das Blut in den Adern zu gerinnen, mein Atem stockte und ich starrte sie an. Dieses Blau ... dieser Blick. Ich schluckte und wandte mich hastig ab. Doch nach nur wenigen Augenblicken drängte mein innerer Schweinehund, mich umzudrehen. Vorsichtig, und so ganz zufällig — Sie wissen schon — sah ich in ihre Richtung. Und wahrhaftig, sie sah zu mir herüber, und jetzt lächelte sie sogar. Mein Blut geriet in Wallung. Ich alter Esel bekam einen roten Kopf. Ich spürte es regelrecht und drehte mich schnell um. So was Blödes. Da ließ ich mich von einem so jungen Ding verrückt machen, dabei hatte ich Kinder, die in ihrem Alter waren. Trotzdem. Es war schön. Ein Prickeln durchfuhr meinen Körper. Es kletterte über die Kopfhaut, rann den Rücken hinunter, dass es mich schauderte, und mein Herz pochte wie wild. Oh ja, dieses Gefühl kannte ich doch! Von früher ... Bevor ich ausstieg, sah ich nochmals unauffällig zu ihr hin. Und ich glaubte ein leichtes Nicken zu sehen. Na das war ein Ding! Die schöne Blonde ließ mich den ganzen Tag nicht los. Wie konnte sie auch.

So ging das ein paar Tage. Ich blühte zusehends auf, und meine Christine beobachtete mich misstrauisch aus den Augenwinkeln heraus. Ja was war denn schon dabei, wenn ich meine gute alte Strickjacke nicht mehr anziehen wollte? Ich bestand auch täglich auf ein frisches Hemd. Nicht die langweiligen Schlipse sollte sie mir dazu hinlegen, nein, nun suchte ich mir meine Garderobe selbst aus. Eigenhändig. Und wenn mir Christine etwas hinlegte, was ich für zu altmodisch hielt, war ich glatt beleidigt. Knödel-Kleidung für solch einen tollen Hirsch wie mich.
Immer öfter fand ich mich im Schlafzimmer wieder. Dann posierte ich vor der großen Spiegeltür des Schrankes. Ich straffte den Rücken, rollte die Schultern nach hinten, damit mein breites Kreuz zur Geltung kam. Und ich zog den Bauch ein. Schließlich kam ich zu dem Schluss, das mir ein wenig Sport nicht schaden würde. Meiner Christine, die ich in letzter Zeit etwas kritischer betrachtete, übrigens auch nicht. War sie in den letzten Jahren nicht ziemlich gealtert? Ihr Becken war breiter, den Bauch kaschierte sie gekonnt mit ihrer Kleidung — aber er war da. Ich kam nicht umhin, sie auch zu begutachten, wenn sie nackt war. Heimlich und kritisch nahm ich sie und ihr Erscheinungsbild unter die Lupe. Ihr Busen hing, der Hintern auch. Überhaupt entdeckte ich jetzt so manche Falte, so manches Kilo Fett an meiner holden Angetrauten. Wenn ich mir da das junge, knackige, blonde Ding vorstellte, das mir allmorgendlich zulächelte ... Ding? War sie wirklich nur ein 'Ding' für mich? Wie kann ich jemanden, der mein Leben so beeinflusst, als 'Ding' betrachten? Wohl zur Beruhigung meines schlechten Gewissens, na ja ...
Um es vorwegzunehmen und Ihre Neugier zu befriedigen, ich fühlte mich neben meiner Frau wie ein junger Hirsch. Jung, dynamisch, muskulös, sexy und begehrenswert. Ja, begehrenswert! Würde mich die Schöne sonst bemerkt haben?!

Der Verbrauch an Feuchtigkeitscreme in unserem Haushalt war enorm gestiegen. Ab und zu — also gut, zweimal täglich — tauchte auch ich in letzter Zeit meine Finger hinein, strich die zarte Masse über mein Gesicht und massierte hingebungsvoll die glattrasierten Wangen. Ich fühlte förmlich die Fältchen verschwinden.

Wochen waren vergangen. Unser Sohn, der seit gut einem Jahr nicht mehr bei uns wohnte, hatte uns zum Geburtstag eingeladen. Seine kleine Mietwohnung lag am Stadtrand, an der Endhaltestelle der Straßenbahn. Wir klingelten an der Tür, und das Geburtstagskind öffnete. Und wie es Mütter so an sich haben, drückte auch Christine ihren Großen inbrünstig ans Herz. Sie drückte und sie küsste ihn — und hielt inne. Aus der Küche drangen verdächtige Geräusche an ihr Ohr. "Oh, ist schon jemand da?"
Jochen schmunzelte: "Kommt nur erst einmal rein und setzt euch." Es war gut, dass wir saßen. Denn im Wohnzimmer erschien niemand anderes als meine blonde Schönheit! Mir stockte der Atem, und mein Blut schien in den Adern zu gefrieren. Mir wurde schlecht. Ich glaube, er stellte sie als Angela vor. Ihre Hand war so weich und zart in meiner und ihr Blick so zuckersüß. Im Bad, das ich dann eiligst aufsuchte, standen ihre Cremetöpfchen neben seinem Rasierapparat. Ich besah mir mein Gesicht im Spiegel. Grau und alt, faltig und bedeppert guckte mich mein Spiegelbild an. "Du Esel! Du dämlicher alter Esel! Ein junges, knackiges, blondes 'Ding', eh?" Beschämt schlich ich zurück ins Wohnzimmer.

Wir machten uns an diesem Abend zeitig auf den Heimweg. Irgendwie war mir in dieser Wohnung die Luft zu dünn. Das Bier schmeckte mir nicht, und an einer Unterhaltung fand ich keinerlei Gefallen. Ich war abgestürzt. Tief hinunter in das, was man Depression nannte. Keiner hatte mir gesagt, wie depressiv so eine Depression wirklich war. Und wie weh sie tat.
Heute hatte ich im Lächeln dieses Mädchens die Verehrung für den älteren Herrn gesehen. Den angehenden Schwiegervater. Und ich eingebildeter alternder Trottel hatte geglaubt ... Zu Hause schlich ich ins Schlafzimmer und postierte mich wie gewohnt vor dem Spiegel. Komisch, nichts erinnerte mehr an den brünstigen Hirsch. Die Schultern hingen wie eh und je schlaff nach vorn, der Bauch spannte unterm Hemd. In meinem Gesicht sah ich die altvertrauten Falten und Furchen. Und als ich die Hose fallen ließ, hingen die Arschbacken runter. Unverhohlen grinsten sie mir ihren Spott entgegen — die Falten, der Bauch und von noch weiter unten der Hintern. Wie konnte ich alter närrischer Trottel nur annähernd geglaubt haben ... Ich zog die Hose wieder hoch, strich die graue Locke aus der Stirn und ging zu Christine hinüber.
"Ein hübsches Mädel hat unser Junge da, meinst du nicht auch, Helmut?"
Warum hatte ich bloß das Gefühl, durchschaut zu sein? "Ja, ein sehr hübsches", gab ich kleinlaut bei. Im Vorübergehen tätschelte ich ihr unbeholfen die Schulter, drückte ihr einen Schmatz auf die Wange und fügte schuldbewusst hinzu: "Du warst auch einmal ein hübsches Mädel. Und du bist es heute noch."

 

Liebes Finanzamt ...

Es war im vergangenen Jahr, als sie sich entschloss einen anderen Weg einzuschlagen. Ihren Traum wollte sie wahr machen, ihn erfüllen, diesen schon lange geträumten Traum vom Schreiben. Auf ihrer Schreibmaschine begann sie, die ersten zaghaften Gedanken niederzuschreiben, im Wohnzimmer, auf dem Esstisch. Doch ihre Gedanken waren viel langsamer zu Papier zu bringen, als sie es sich je vorgestellt hatte. Denn so, wie sie etwas niedergeschrieben, nochmals gelesen und durchdacht hatte, kamen ihr die Zweifel. Hätte man nicht dies so ... ? Wäre jene Ausdrucksweise nicht vorteilhafter, treffender ... ? Und passte dieser Satz nicht besser da oben ... ? Also Papier raus und ein neues Blatt eingespannt, abgeschrieben und neu formuliert. Und ehe sie das getan, die eigenen kritischen Bemerkungen allesamt vom Tisch gefegt hatte, stand die Familie um den Tisch und protestierte. Hunger hatten sie und den Tisch wollten sie vom Papierkram befreit und mit etwas Essbarem belegt sehen. Also zog sich das angehende Schreibgenie zurück. Frustriert über das bisher Geschriebene, sowohl die qualitative als auch die quantitative Seite betrachtend.
Und dann reifte in ihr ein Plan, der ihr Vorfreude verschaffte und den holden Ehegatten die Augen rollen ließ: Umräumen! Ja, umräumen!

Nach ein paar schweigsamen Tagen begann der Gatte, weil er ja sowieso nicht drumherum kam, zu fragen, wie sie sich das mit dem Umräumen denn gedacht hätte. Anschließend wurden Möbel gerückt, Augen gerollt und leise Flüche ausgestoßen. Unfeine, nicht gerade druckreife Wortfetzen flogen durchs Haus.
Doch sehen wir, wie es unserem Schreibgenie von nun an erging: Sie hat ihr kleines Reich. Neben dem winzigen Tisch stand der Schrank mit seinen Arbeitsklamotten, im Rücken klemmte das Bügelbrett und zu ihrer Linken ruhte der Hund in seinem Korb. Sie saß in der Abstellkammer! Aber was sollte es. Der Hund war friedlich, mit ihm hielt sie's aus. Nur die Tür konnte sie nicht schließen, sonst rebellierte der Hund. Also blieb sie offen und jeder, der an ihr vorüber ging, blieb stehen und schaute der Schreibenden über die Schulter.
Doch mit der Schreibmaschine war das so ein Ding. Besser wäre ja ein Computer, schon wegen der Änderungen. So ein billiger hätte es ja erst mal getan. Der Gedanke hatte sich in ihrem Hirn festgesetzt und schließlich, in einem günstigen Moment, flötete sie ihre Idee dem Gatten zu. Der gute Mann schnaufte und rollte die Augen, doch wie eine magische Kraft zog der Anzeigenteil des Tagesblattes sie in seinen Bann. Zielsicher peilten ihre Augen die Rubrik 'Computer/EDV-Zubehör' an und nach ein paar Wochen entdeckte sie ihn, einen Commodore 128. Ein älteres Modell, sie gab es ja zu. Für einen Computerfreak einfach lächerlich, indiskutabel. Kein Thema so 'ne Kiste. Aber sie brauchte ja nur ein Schreibprogramm — dachte sie — und das hatte er. Billig war er obendrein. Also wurde er angeschafft und sie schrieb wie besessen. Fast jeden Abend und oftmals in der Nacht.
Ein paar Seiten ihres Manuskriptes schickte sie einem Verlag. Nur so — mal die Lage peilen, sehen was passiert. Die Antwort haute sie fast um. Die Verlegerin bat um weiteres Material und um ein persönliches Gespräch. Zum Kennenlernen und so. Das steigert das Selbstbewusstsein und lässt das Herz höher schlagen. Sogar der Gatte war versöhnt und siehe da, er unterstützte sie, richtete ihr im ersten Stock ein Arbeitszimmer ein. Der Mann gipste, tapezierte, bohrte, hämmerte und pinselte. Er schrubbte sogar mit ihr gemeinsam den alten Teppichboden. Für einen neuen reichte das Geld nun wirklich nicht mehr, denn sie hatte sich auch noch einen Schreibtisch gekauft, einen Aktenschrank und ein passendes Regal dazu. Außerdem Bücher und Disketten, Büromaterial und und und. Natürlich alles preiswerte Sachen, da hatte sie genau hingesehen und verglichen. Doch der Blick auf den Kontostand versetzte ihrer Euphorie dann doch erst einmal einen Dämpfer — einen ordentlichen, wenn Sie's genau wissen wollen. Und so nagte sie schuldbewusst an ihrer Unterlippe, während der Gatte versuchte seine Kinnlade wieder in die normale Position zu bringen.
Wie dankbar war sie da den guten Freunden, die den beiden versicherten, eine Büroeinrichtung könne man von der Steuer absetzen, die anteiligen fixen Kosten auch. Das beruhigte ungemein. Und da sie fleißig war, stiegen diese Kosten. Sie telefonierte viel mehr und musste auch ab und zu im Verlag erscheinen. Aber nur ruhig Blut, vom Finanzamt kommt ja ein Teil zurück. Das würde sie auch brauchen, denn das Kinn des Gatten gewöhnte sich allmählich an die hängende Stellung.
Sei still, mein lieber Gatte, sagte sie, und maule nicht mehr herum. Bald, ja bald gibt's was vom Finanzamt zurück. Dann kannst du das Auto reparieren lassen. Und wenn ich mal Geld verdiene mit dem Schreiben, viel Geld meine ich, dann darfst du dir was wünschen. Einen Fisch? Einen Fisch fürs Aquarium willst du? Na klaro! Du kriegst deinen Fisch. Warte nur ein bisschen. Nur noch ein Weilchen, mein lieber Gatte.
Dann kam der Bescheid vom Finanzamt. Sie riss den Umschlag auf wie ein Weihnachtspaket und begann zu lesen. Der Gatte sah ihr erwartungsvoll über die Schulter. Sie lasen das Unfassbare und der Gatte rollte mit den Augen und zog die Mundwinkel noch tiefer nach unten als sonst. Und während er sich abwandte, las sie es noch mal und noch mal. Aber immer noch stand dort schwarz auf weiß:

... die Kosten für das Arbeitszimmer können nicht anerkannt werden, da die Aufwendungen nicht mit steuerpflichtigen Einnahmen in Zusammenhang stehen. Die geltend gemachten Kosten stellen daher private Lebenshaltungskosten gem. § 12 EStG dar ...

Die Schreibende setzte sich und nach einigem Überlegen schrieb sie einen Brief, einen Brief ans Finanzamt. Ohne die Finger zu rühren, nur mit ihren Hirnzellen und der ungläubigen Wut des 'Kleinen Mannes', pardon, der 'Kleinen Frau'.

Sehr geehrtes Finanzamt ...
sehen Sie mal, bevor ich in dieser Sache etwas steuerpflichtig einnehmen kann, muss ich notgedrungen erst einmal etwas dafür tun. In meiner Klasse ist das nun mal so. Ich bin ein optimistischer Mensch und daher ziemlich sicher, dass ich eines Tages mit dem Schreiben Geld verdienen werde. Auch nachdem ich Ihren Bescheid erhielt, schrieb ich weiter. Und sehen Sie, gerade eben liest wieder jemand eine meiner Geschichten. Die Geschichte vom Finanzamt. Ihre Geschichte. Wieder ein Buch verkauft, ha! Bevor ich Ihnen aber mein steuerpflichtiges Einkommen mitteile, kaufe ich meinem Mann einen Fisch. Einen neuen Fisch fürs Aquarium!

 

Beide Geschichten stammen aus Irren ist menschlich und 17 andere Geschichten, die irgendwem passiert sein müssen (1999). Weitere Informationen über dieses Buch - auch eine kurze Besprechung - finden Sie unter biographische Information.

Copyright © Karin Kitsche 1999.

Kurze biographische Information zu Karin Kitsche

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