Kenneth Koch

Einige Gedichte aus The Art of Love

in deutscher Übersetzung von Johannes Beilharz

   

Die Magie der Zahlen

Die Magie der Zahlen ­ 1

Wie seltsam es war, dem Herumrücken der Möbel in der Wohnung über uns zuzuhören!
Ich war sechsundzwanzig, und du warst zweiundzwanzig.

Die Magie der Zahlen ­ 2

Du fragtest mich, ob ich mit dir um die Wette laufen wollte, aber ich sagte nein und ging weiter.
Ich war neunzehn, und du warst sieben.

Die Magie der Zahlen ­ 3

Ja, aber mag uns X wirklich?
Wir waren beide siebenundzwanzig.

Die Magie der Zahlen ­ 4

Du siehst aus wie Jerry Lewis (1950).

Die Magie der Zahlen ­ 5

Großvater und Großmutter möchten, daß du zum Abendessen zu ihnen kommst.
Sie waren neunundsechzig, und ich war zweieinhalb.

Die Magie der Zahlen ­ 6

Eines Tages, als ich neunundzwanzig Jahre alt war, begegnete ich dir, und nichts passierte.

Die Magie der Zahlen ­ 7

Nein, natürlich war ich das nicht, der zur Bibliothek kam!
Braune Augen, gerötete Wangen, braunes Haar. Ich war neunundzwanzig, und du warst sechzehn.

Die Magie der Zahlen ­ 8

Nachdem wir uns eines nachts in Rockport geliebt hatten, ging ich ins Freie und küßte die Straße,
so hingerissen fühlte ich mich. Ich war dreiundzwanzig, und du warst neunzehn.

Die Magie der Zahlen ­ 9

Ich war neunundzwanzig, genau wie du. Wir erlebten eine sehr leidenschaftliche Zeit.
Alles, was ich las, verwandelte ich in eine Geschichte über dich und mich, und alles, was ich tat, wurde zu einem Gedicht.

The Magic of Numbers

   

Der Zirkus

Ich weiß noch, wann ich Der Zirkus schrieb.
Ich lebte in Paris, das heißt, wir lebten in Paris
Janice, Frank war am Leben, das Whitney Museum
War noch in der 8. Straße, oder war es noch etwas anderes?
Fernand Léger wohnte in unserem Gebäude
Eigentlich war es nicht unser Gebäude es war das Gebäude in dem wir wohnten
Tür an Tür mit einer Grand Guignol-Truppe die viel Lärm machte
So daß ich eines Tages durch ein Loch in der Wand unserer
Wohnung ich weiß nicht warum da ein Loch war hindurch schrie
Ruhe da drüben! Und eine Stimme antwortete
Ich weiß nicht was. Einmal sah ich Léger aus dem Gebäude gehen
Glaube ich. Stanley Kunitz kam zum Abendessen. Ich schrieb Der Zirkus
In zwei Sitzungen, währen der ersten den Großteil der ersten Strophe;
In jemen Herbst schrieb ich auch ein Opernlibretto mit dem Titel Louisa oder Matilda.
Jean-Claude kam zum Abendessen. Er sagte (über "Cocktailsauce")
Daß sie auf etwas gut wäre aber nicht auf diesen Austern.
Zu der Zeit hatte ich glaube ich Der Zirkus bereits geschrieben.
Ein Teil der Inspiration kam mir eines nachts während eines Ganges zur Post
Und ich schrieb eine lange Passage von Der Zirkus
Als ich zurückkam ich hatte mich geärgert dort hingehen zu müssen
Aus einem Grunde den ich vergessen habe
Warst du in der Wohnung was für ein Loch das war aber es gefiel uns
Glaube ich mit deinem Haar und deinem Schreiben und den Töpfen
Klimpernd in der Küche umhergehend und ich schrieb Der Zirkus
Es war in einer Sommernacht nein es war ein Herbst ein Sommer als
Ich erinnere mich aber doch kein Herbst diese schwarze Dämmerung
     auf dem Weg zur Post
Und ich schrieb viele andere Gedichte damals aber Der Zirkus war das beste
Vielleicht nicht das bei weitem beste Geography war ebenfalls wunderbar
Und die (von dir inspirierten) Airplane Betty-Gedichte aber Der Zirkus war das beste.
Manchmal fühle ich mich tatsächlich als die Person
Die dies tat jenes schrieb, einschließlich des Gedichts Der Zirkus
Aber dann auch wieder manchmal nicht als diese Person.
Es gibt so viele Faktoren, die unsere Aufmerksamkeit auf sich lenken!
In jedem Augenblick das Glück der anderen, die Gesundheit
     unserer Bekannten und unsere eigene!
Und die Millionen und aber Millionen von Leuten die wir nicht
     kennen und an deren Wohlergeben wir denken sollten
Deshalb kommt es mir seltsam vor daß ich Zeit hatte Der Zirkus zu schreiben
Und dazu sogar zwei Abende brauchte, und daß ich außerdem Zeit habe
Daran zu denken daß ich es schrieb daß ich mich an dich und mich
     damals erinnere und dieses Gedicht darüber schreibe
Am Anfang von Der Zirkus
Rollen die Zirkusmädchen in den Zirkuswohnwägen
durch die Nacht und Tulpen und andere Blumen werden gepflückt
Nach langer Zeit will dieses Gedicht ganz allein loslegen
Irgendwo wie ein Gemälde das sich nicht an eine Abbildung der
     Verfassens von Der Zirkus hält.

Noel Lee war damals in Paris jedoch gewöhnlich anderswo
In Deutschland oder Dänemark wo er Konzerte gab
Teil einer endlosen Aktivität
Die entweder seine Karriere war oder sein Glück oder beides kombiniert
Oder weder das eine noch das andere ich erinnere mich an den Blick
     seiner dunklen Augen ich schien ihn nervös zu machen
Vielleicht wegen unserer Zeit in Harvard.

Es ist nur zu verständlich daß einen jemand nervös machen kann!

Wie sanft und leicht man sich fühlt wenn man allein ist
Die Liebe zu seinen Freunden wenn man über das Zeit- und Ortssyndrom gebietet
Falls das das richtige Wort ist was ich bezweifle aber zusammen
     wie kommt's daß man so nervös ist?
Man ist es nicht immer aber was war ich damals und was versuche ich jetzt
     zu erschaffen
Falls erschaffen das richtige Wort ist
Aus dieser Kombination von Erfahrung und Alleinsein
Und wer bist du schon daß du mir zu sagen hast es ist ein Gedicht oder es ist keins
     (nicht du)? Geh aber zurück mit mir
Zu jenen Abenden an denen ich Der Zirkus schrieb.
Gefällt dir dieses Gedicht? Hast du es gelesen? Es ist Teil meines Buches Thank You
Das gerade von Grove neu aufgelegt wurde. Ich frage mich wie lang ich leben werde
Und wie der Rest verlaufen wird ich meine der Rest meines Lebens.

John Cage sagte neulich zu mir Wie alt sind Sie?
     und ich sagte sechsundvierzig
(Inzwischen bin ich siebenundvierzug geworden) er sagte
Oh das ist ein tolles Alter ich erinnere mich daran.
John Cage sagte einmal zu mir daß er für seinen Pilzerkennungskurs
     (an der New School) nicht viel verlangt
Weil er aus der Natur keinen Gewinn schlagen will

Er war seiner Zeit voraus ich war meiner Zeit hinterher wir waren beide in der Zeit
Brilliant stell dich vorne vor die Klasse hin und "die Zeit ist ein Fluß"
Sie scheint mir kein Fluß sie scheint mir eher ein ungeformter Plan
Die Tage vergehen und nichts wird entschieden
Darüber was zu tun ist bis man weiß es wird nie geschehen und dann
     fällt das Wort "Zeit"
Aber es bedeutet dir kaum noch etwas
Zeit bedeutet etwas wenn der größte Teil deiner Zeit noch vor dir liegt
Wie damals in Aix-en-Provence das war drei Jahre bevor ich Der Zirkus schrieb
In jenem Jahr schrieb ich Bricks und The Great Atlantic Rainway
Ich fühlte mich von der Zeit eingehüllt wie in einer Decke endlos und weich
Ich konnte endlos schlafen und aufwachen und war immer noch in ihr
Aber insgeheim schätzte ich den Teil von mir der sich individuell wandelte
Wie Noel Lee war ich an meiner Karriere interessiert
Und bin es noch aber jetzt ist sie wie eine Stadt die ich nicht verlassen möchte
Nicht ein Turm den ich gegen den Widerstand grimmiger Feinde erklimme

Ich erwähnte in der Zeit als ich Der Zirkus schrieb nie meine Freunde
     in meinen Gedichten
Obwohl sie mir fast mehr bedeuteten als alles andere
Dies hat sich seit einiger Zeit bei mir abgeschwächt
Deshalb erwähne ich sie vielleicht bringt sie das zu mir zurück
Nicht sie vielleicht aber was ich für sie fühlte
John   Ashbery   Jane   Freilicher   Larry   Rivers   Frank   O'Hara
Schon bei der Nennung ihrer Namen steigen mir Tränen in die Augen
Wie bei der Begegnung mit Polly gestern nacht

Es ist zu jeder Zeit schön aber das Paradox besteht darin es zu verlassen
Damit man es nach der Rückkehr fühlen kann die Sonne ist untergegangen
Und die Leute sind fröhlicher oder ganz heimgegangen
Und du bist allein damit findest du dich ab deine Sicherheit ist wie die Sonne
Während du sie hast aber wenn nicht ist ihr Fehlen
     eine schwarze und eisige Nacht. Ich kam nach Hause

Und schrieb an jenem Abend Der Zirkus, Janice. Ich ging nicht zu dir hin
     sprach nicht mit dir
Umarmte dich nicht fragte dich nicht ob du spazierengehen wolltest
Oder zum Cirque Medrano gehen obwohl ich darüber Gedichte schrieb
Und nun darüber schreibe, jetzt, da ich allein bin

Und dieses Gedicht ist nicht so gut wie Der Zirkus
Und ich frage mich ob trotzdem das eine oder das andere
irgendeinen Nutzen haben wird.

The Circus

   

Einen Augenblick lang lebendig

Ich habe einen Vogel in meinem Kopf und ein Schwein im Magen
Und eine Blume in meinen Genitalien und einen Tiger in meinen Genitalien
Und einen Löwen in meinen Genitalien, und ich bin hinter dir her, aber ich habe
       ein Lied im Herzen
Und mein Lied ist eine Taube
Ich habe einen Mann in meinen Händen ich habe eine Frau in meinen Schuhen
Ich habe eine wesentliche Entscheidung in meinem Gehirn
Ich habe ein Todesrasseln in meiner Nase ich habe Sommer in meinem
       Gehirnwasser
Ich habe Träume in den Zehen
Das ist los mit mir und der Hammer meiner
       Mutter und meines Vaters
Die mich erschufen mit allem Drum und Dran
Doch mangelt es mir an Ruhe mangelt es mir an Rose
Auch wenn es mir nicht an der extremen Zartheit von Rosenblättern mangelt
Wen will ich denn erstaunen?
In dem Vogelruf fand ich eine Erinnerung an dich
Doch war sie dünn und spröde und nach einem Augenblick vorbei
Hat sich die Natur vorgenommen ein großer Unterhalter zu werden?
Offensichtlich nicht Ein großer Nachahmer? Ein großes Nichts?
Diese Entscheidung überlasse ich dir
Ich habe einen klopfenden Specht in meinem Herzen und es ist mir als
       hätte ich drei Seelen
Eine für die Liebe eine für die Poesie und eine zum Ausleben meines
       verrückten Selbst
Nicht verrückt sondern langweilig aber senkrecht aber falsch aber
       wahr
Die drei singen kaum jemals Harmonie nimm meine Hand sie wirkt
Der Wirkstoff in ihr ist Berührung
Ich bin Lord Byron ich bin Percy Shelley ich bin Ariost
Ich esse den Speck ich rutschte die Rutsche hinab ich habe einen
       Gewittersturm in mir ich werde dich niemals hassen
Wie kann aber dieser Malstrom gefallen? magst du
       Menagerien? mein Gott
Die meisten Leute wollen einen Mann! Da bin ich also
Ich habe einen Fasan unter meinen Merkzetteln ich habe einen Hühnerhabicht in
       meinen Wolken
Was ist es eigentlich das diese ganzen Tiere zu dir geführt hat?
Eine Wiederaufstehung? oder vielleicht ein Aufstand? eine Inspira-
       tion?
Ich habe ein Baby in meiner Landschaft und ich habe eine wilde Ratte in
       den dir verheimlichten Geheimnissen.

Alive for an Instant

   

Kenneth Koch
The Art of Love

New York: Vintage Books 1975

Veröffentlichung der Übersetzung im Internet mit freundlicher Genehmigung von Kenneth Koch.

Copyright © der deutschen Übersetzung Johannes Beilharz 2000.

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