Kurzprosa

von Isa Schätzle

 

Ein Lesebuch

Damals hatten wir ein Lesebuch. Es hieß "Kompass" oder Lesebuch. Wir Mädchen mochten es, die Jungs nicht, die malten Sachen rein. Die Strafarbeiten waren immer, eine Seite aus dem Lesebuch abzuschreiben. Es gab nur vier Geschichten, die genau eine Seite lang waren. Nach der dritten Klasse konnten wir alle sie auswendig.
Trotzdem waren es die schönen Deutschstunden, in denen wir aus dem Lesebuch gelesen haben: keiner brauchte wissen, was ein Adjektiv oder Substantiv ist, und wie die Tun- und Ist-Wörter alle heißen. Es gab auch immer ein Rätsel. Die Lösung stand nach Doppelpunkt auf dem Kopf gedruckt unten auf der Seite. Die Rätsel waren deshalb nicht so spannend.
Die Gedichte hießen "Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland" und "Er ist’s" und mußten auswendig gelernt werden. Unsere Lehrerin wollte, daß wir nicht nur alle Zeilen frei aufsagen konnten, sondern, daß wir auch richtig betonten und schrieb dann das Wort "Gestik" an die Tafel. Das Wort "Gestik" bedeutete, daß derjenige mit den ausladensten Arm- und Handbewegungen die beste Note bekam. Bei traurigen Zeilen mußte man auf den Boden schauen und eventuell mit den Zeigefingern über die Backen streichen, das sollte Heulen darstellen. In der Gedichtlernzeit mußten wir besonders viel aus dem Lesebuch abschreiben.

Die anderen Bücher hießen nicht Lesebuch, mußten aber auch gelesen werden. Besonders das Mathebuch, wo man dann gleichzeitig auch noch schreiben mußte und später abschreiben, im Bus oder auf dem Klo oder Flur, weil man Wichtigeres zu tun oder lesen gehabt hatte.
Das "Bravo Girl" nämlich, wo in der Photolovestory drinstand, was man tun muß, wenn einer einen nicht beachtet oder wie man zwei Freunde ganz unauffällig zusammenbringt. Daß es mit: "Du, ich weiß von der Conny, daß der Martin der Franzi gesagt hat, daß der Oli dich echt süß findet" nicht funktioniert, wußten wir spätestens seit Oli mit Dani bzw. nicht mit Dani und Oli mit Steffi, und das hat auch nicht funktioniert.
Ja, der Oli. Der hätte mir auch gefallen. Wie der sich im Bus immer frech zwischen die Oberstufler setzt! Aber der Oli gibt sich nicht mit so einer wie mir ab, Streberin nämlich und Lehrerkind. Dabei weiß ich aus dem "Girl" alles über Knutschen und den Unterschied zwischen Erektion und Ejakulation und von was man schwanger wird und Aids kriegt und was Jungs mögen und daß man sich nicht schämen braucht, wenn man gut in der Schule ist, da soll man dann nämlich auf einen verständnisvollen und einfühlsamen Partner warten, das stand auch bei richtigem Sex.
Richtigen Sex hat der Oli jetzt mit der Roswitha. Die hat der Angi nämlich die "Pille" gezeigt auf’m Klo und am Busbahnhof gemeint: "ich hab mit Rauchen aufhören müssen, wegen den Risikofaktoren, ihr wißt schon".
Wir wissen auch, daß Oli und Roswitha es im Auto getan haben und daß es voll romantisch war. Das wissen wir von Roswithas bester Freundin Silvia, die jetzt nach dem Streit, weil sie alles rumerzählt hat und dann nicht mehr Roswithas beste Freundin war - das war dann die Trixi, die in der Hierarchie sozusagen nachgerückt ist - wieder Versöhnung mit Roswitha gefeiert hat. Trixi ist also wieder die zweitbeste Freundin.
Und natürlich war ich zur Versöhnungsparty der beiden nicht eingeladen und wußte so wochenlang nicht, wer da mit wem.
Ich konnte wieder einmal nicht mitreden. Die Streberin, das Lehrerkind.

Ein Lesebuch wäre schön gewesen: ihr Getuschel hätt ich einfach überhören und den Kopf ins Lesebuch stecken können. Aber wir sind ja schon in der neunten Klasse: kein Lesebuch mehr. Und das "Bravo Girl" und das "Mädchen", liest man natürlich nicht allein.

Kein Lesebuch mehr - die Strafarbeiten gibt es noch, immerhin.

 

Für Karlson

Mein Freund hat ein Haus. Mit Rissen. Und der Putz bröckelt ab. Und bei Sturm segeln Ziegel vom Dach.
Seine Katze heißt Mamasitta, die schläft in der Küche, beim Herd, in dem ein Feuer brennt.
Auf dem Wasser kocht, für Kaffee, wenn ich komm.

Der sagt nicht viel, mein Freund. Der rührt die Milch mit’m Schneebesen schaumig und lacht durch kugelrunde Brillengläser.
Die Freunde von meinem Freund sagen, er habe es gut. Vielleicht motzt er einfach nicht so oft wie wir.
Am Telefon sagt er immer fast gar nix - er ruft trotzdem manchmal an.

Er arbeitet lieber nur am Morgen, mein Freund. Am Mittag sitzt er vor der Türe, vor seinem Haus, in der Sonne, falls sie da ist und macht die Augen zu. Dazu trinkt er meistens Kaffee, streckt die Füße durchs Treppengeländer, und wenn er nicht gerade mit dem Rauchen aufhört, raucht er eine Zigarette, oder viele.

Die Milch für die Katze und den Kaffee holt er beim Bauern, das ist nicht weit. Und im Sommer fährt er mit seinem Rad und einer Sense über der Schulter zu einer Wiese, die er dann mäht, weil sie ihm gehört und die Apfelbäume auf der Wiese auch, samt Äpfeln, falls es welche gibt.

Wenn ich ihn besuche, kann ich mit in seinem Bett schlafen, oder in der Hängematte im Wohnzimmer, aber das ist mir zu schaukelig.
Die Nachbarn sind nett, sie finden meinen Freund komisch oder alternativ, manche unanständig. Wenn ich gehe, küß ich ihn unter der Tür, damit sie was zu reden haben.
Einer will meinem Freund das Haus anmalen, ganz kostenlos, wegen dem "Straßenbild". Mein Freund sagt, sein Haus sei wie er: mit Rissen und Falten. Das dürfe man sehen.
Er möge sein Haus.

Ich mag ihn auch.

 

Lena

Die Teppichecken hat sie hochgeklappt. Um den kleinen polternden Ofen, unter das altmodische weinrote Sofa, unter den Tisch führt sie den Besen. "Sei gegrüßt, o Königin, Mutter der Barmherzigkeit, unser Leben, unsre Wonne..."
Eine Hand wie Schmirgelpapier umgreift das weiche Staubtuch, während die andere das Deckchen lüpft, auf das sie mit sieben Jahren in der Schule das Alphabet und ihr Monogramm gestickt hat: Eine Tatze für zu schmutzige Hände und die Buben übers Knie gelegt und d’raufgedroschen, bis die Hosen voll waren. Das Tuch streicht über das Bild der vier Schwestern: "Julie, Rosa, Elisabeth, ich selbst: Lena." Eine hübscher als die andere, hatte man gesagt, und sie wird rot, wenn sie daran denkt. An die Zeit der langen Zöpfe, als sie noch alle zusammen waren, zuhaus. Als sie Kopftücher und langärmlige Blusen bei der Heuernte trugen um vornehm blaß zu sein. Als sie an langen Winterabenden mit den Geschwistern und Eltern beisammensaß - die Hosen und Socken der Brüder flickend. Halbherzig eine Aussteuer fertigend, denn nichts hätte sie mehr gewünscht, als wie Julie ins Kloster zu dürfen.

Sie war geblieben. Ist geblieben, als einzige der Geschwister noch: übrig, denn die Jahre sind schnell und heftig vergangen. "Sei gegrüßt! Zu dir rufen wir, verbannte Kinder Evas; zu dir seufzen wir trauernd und weinend in diesem Tal der Tränen. Wohlan denn..."
Die Teppichecken klappt sie zurück. Jetzt die Kammer. Über den Nachttisch, übers Kruzifix wischt sie, über die Frisierkommode. "Komm, Mutter, komm, ich kämm dir das Haar". Und die geliebte knochige Frau war in diesen Momenten ganz klar gewesen, als habe sie den Verstand.
"...unsre Fürsprecherin, wende deine barmherzigen Augen uns zu, und nach diesem Elend zeige uns Jesus, die gebenedeite Frucht deines Leibes. O gütige, o milde, o süße Jungfrau Maria."
Auch auf das Regal hat sich die Vergänglichkeit als feiner grauer Schleier gelegt. Asche zu Asche, Staub zu Staub.
In der Ferne das Geräusch der Erde, die aus ihrer Hand ins Grab des Bruders fällt. Paul war aus dem Kriege heimgekehrt, ausgehungert und nachts. Er war leise in die Stube getreten, und doch waren sie erwacht, an seinem Schritt. Sind zu ihm in die Stube geschlüpft und haben ihn schweigend in die Arme genommen, Erleichterung und Wiedersehensfreude wollte aus ihnen strömen, und kam doch nicht weiter, als bis zu seinen müden blauen Augen. "Bub", hatte Mutter gewispert und Suppe gekocht. Er aß, sie schluckten, an dem Kloß im Hals.
Auch Franz kam zurück, ohne das Zwinkern, ohne den Schelm, den sie so geliebt hatten. Die Brüder erzählten nichts aus den verlorenen Jahren und starben bald - am Herzen, wie man sagte.
Das weiche Tuch verschlingt den Staubschleier, wie die Zeit die Trauer dämpft.

Bevor sie Staub und Vergangenheit zum Fenster hinaus schüttelt, gönnt sie sich einen Moment der Rast, sinkt auf einen Stuhl. Mutters Stuhl. Auf dem Mutter am Fenster saß und gewartet hatte, bis Hunderte von Löchern in der Fabrik in Nadeln gestanzt waren. Jeden Tag, neun Stunden, fünfunddreißig Jahre. Gute Jahre, denn sie hatten zu essen, waren beisammen und es gab keinen Krieg. Zufrieden und dankbar waren sie, und der Abschied von Mutter fiel schwer. Noch ein Jahr lang in die Fabrik, dann die Böden geschrubbt, bei Nichten und Neffen. Kinder gehütet, die alle "Tante Lena" sagten. Und hinter ihrem Rücken immer ein wenig über sie getuschelt hatten, weil sie das Radio im Schrank versteckte, weil sie keinen Fernseher hatte, noch nicht mal eine Zeitung und das Telefon erst seit fünf Jahren. Weil sie nur einmal in Lourdes gewesen war, bei der heiligen Jungfrau und sonst nirgendwo und von der Welt nichts wissen wollte. Immer eine Schürze über dem Kittelschurz, vor dem Essen gebetet, zur Beichte gegangen, zum Gottesdienst.

"Ich muß bald sterben", hatte sie bis vor ein paar Jahren gesagt. "Ich sterbe bald", sagt sie nun und steht auf, um das Fenster zu öffnen.


Alle Copyright © Isa Schätzle 2000.

Kurze biographische Information zu Isa Schätzle

Zurück zum Prosa-Index