Rudolf Stirn

 

Ein Auszug aus

Der Inselkönig

Fantasiestück in Callots Manier

 

 

Die Insel

 

Als Beernagel das Haus verließ, wußte er, daß seine Insel in der Sonne lag. Er eilte zur Haltestelle, schlüpfte, sobald der Bus kam, lautlos hinein und schob sich auf einen freien Sitz.

Eine oder zwei Stationen fuhr er so, solange sich das Lächeln auf seinem Gesicht hielt. Dann stülpte er die Erdmaske drüber.

Fahrgastaufschrei, Fahrerentsetzen.

Ich steig ja aus, Kinder, gewiß, fürchtet euch nicht. Kann's euch manchmal eben nicht ersparen. Tut mir schon immer leid. Nicht gut, nicht gut, ich weiß.

Beernagel huschte über den Platz. Keine Sonne, kein bißchen Gemütlichkeit. Verkehr wie immer. Lärm, Getöse. Ordentliches Vollgetöse.

Er schob sich durch die Leibermenge. Weg, macht Platz. Schnaufte und schob. Fort mit euch. Rasch, aus meiner Bahn.

Beernagel riß Knöpfe ab, zerschlitzte Ärmel, drückte Hüte ein. Er trat Absätze unter den Schuhen weg. Räumte richtig auf. Nicht einmal ins Schwitzen kam er. Der städtische Abendrummel lief ihm glatt durch die Finger.

Als er bei der Insel ankam, lächelte Beernagel. Inselfriede senkte sich herab, umgab ihn mit guter Laune. Hierher, Beernagel, flötete es. Komm, halt uns fest, Vogeldieb. Beeil dich, Flüsterkönig.

Er schwenkte die Erdmaske, warf sie in die Luft hoch. Wie das schön ist. Guten Tag, Insel. Wie schön, daß ich hier bin.

Herr Mittenzwei, Ihr Hals ist hin. Schade um das viele Blut, das überall an Ihnen herunterfließt.

Wohin, wohin, echote es aus dem Inselwald. Beernagel warf das Messer in ein Ährenfeld, heulte wie ein Wolf und blökte wie ein Lamm. Löwenmähnig paradierte er über den Inselboulevard.

Sein Glück genießend, gründete er seinen Staat. Er hatte zusammengetrommelt, was er brauchte.

Über dem Bahnhofsturm kreiste ein Polizeihubschrauber. Sirenengeheul fegte durch den Busch. Beernagel duckte sich unter die Erdmaske. Er spähte ins grellgelbe Insellicht hinaus.

Mein Sonnenstaat, hörte er seine Stimme donnern. Habt Acht, habt alle Acht. Nähert euch, die ihr gekommen seid, mich zum Inselkönig zu krönen. Helft mir auf den Thron!

Er sah seine Getreuen stehen und lächelte. Hörte, wie Freudenschreie zum Himmel stiegen. Winkte. Erblickte eine Schar, die sich abseits hielt und schwieg. Schleuderte seinen Zorn auf sie.

Wehe, ihr Trübsinnigen! Wer nicht mit auf die Reise will, den muß ich hinter mir lassen.

Beernagel tanzte. Mit der Erdmaske tanzte er über den Inselboulevard.

 

 Der Inselkönig

Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Autors.

© Rudolf Stirn 2000.

 

Beernagel, der Gewalttäter, beherrscht als Inselkönig ein imaginäres Reich. Versuche, sich seiner zu bemächtigen, scheitern. Wird der Leser sich in den Triumph der Gewalt verwickeln lassen? Oder bleibt er vielleicht, durch Gelächter ernüchtert, am Ende verwundert über seine Anfälligkeit zurück?

 

Biographisches zu Rudolf Stirn

 

Auszug aus Mörike, der Kanzler, Kleiner und Ich

 

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